Gentrifizierung im Leipziger Osten: Wenn die Ersten gehen müssen

Als im „Goldhorn“ die ersten Partys gefeiert wurden, das „Ery“ die Türen öffnete, wollte kaum einer in der Eisenbahnstraße wohnen. Jetzt sollen die Pioniere von damals weichen, während das Viertel immer schneller wächst.

Der Brief ist kurz, aber die Botschaft klar: „Wir (…) fordern sie zur sofortigen Räumung auf“. Das Schreiben hat ein Leipziger Anwalt verschickt, gelandet ist es bei Friedrich Koch, einem der Mitbegründer des „Goldhorn“. Eigentlich müsste Koch jetzt den plüschigen Vorhang über der Bühne abmontieren, die Holzvertäfelung der Bar, die in ihrem früheren Leben zu einer DDR-Kantine gehörte. Er müsste den pinken Sternhimmel, die vielen Kritzeleien an den Wänden überpinseln, den schnoddrigen Glamour seiner Kneipe zerstören. Doch stattdessen sitzt Koch recht entspannt an einem der Tische, den Brief in den Händen, und sagt: „Wir werden nicht so einfach aufgeben.“

Beim „Goldhorn“ haben sie sich einen Anwalt genommen. Möglich, dass die Kneipe zumindest noch den Sommer über in der Eisenbahnstraße bleiben kann, im Haus mit der Nummer 97. Doch es geht hier nicht nur darum, etwas aufzuschieben: Seit Monaten schließen im Viertel Orte, die sich abheben von den Spiele-Cafés, Restaurants, Obst- und Gemüseläden. Soziokulturelle Zentren wie das „Erytrosin“ bekamen überraschend eine Kündigung. Ende Januar soll das Café „Ding Dong“ dichtmachen. Der Vermieter fordere utopische Mieten, heißt es auf der Instagram-Seite.

Freigeister füllten die Leere mit wilden Ideen

Genau das könnte auch in der Eisenbahnstraße 97 drohen. Denn das Haus hat einen potenziellen neuen Eigentümer. Der soll angekündigt haben, alle rauszuschmeißen. Entsprechende Nachrichten konnte die LVZ einsehen. Der Ton ist aggressiv. Deswegen haben sich die Mieter und Mieterinnen des Hauses zusammengetan, Pressemitteilungen verschickt, eine Petition gestartet. Sie warnen vor steigenden Mieten und Verdrängung. Sie stemmen sich gegen eine Entwicklung, die man aus Connewitz und Plagwitz kennt.

Wer wissen will, wie es früher war im Leipziger Osten, der muss sich mit den Alteingesessenen unterhalten. Viele sind Migranten, können Geschichten erzählen. Sie handeln von verwaisten Straßenzügen, verfallenen Häusern, Junkies, Kriminalität – aber eben auch von Möglichkeiten: Hauseigentümer gaben Wohnungen und Gewerbeflächen lange für wenig Geld her. Die ersten Geschäfte öffneten. Und Freigeister füllten die Leere mit ihren eigenen Ideen.

„Das hier war eine Geisterstadt“

Friedrich Koch kam 2012 in den Leipziger Osten. „Das hier war eine Geisterstadt, kaum ein Auto war auf der Straße.“ Mit Freunden zog er in eines der ehemaligen Wächterhäuser, wenige Straßen weiter eröffneten sie das„Goldhorn“, feierten Partys hinter zugemauerten Fenstern. Wegen der schlechten Belüftungsanlage tropfte der Schweiß von der Decke. Der Wodka floss aus einem umgebauten Wasserhahn. Den damaligen Vermieter aus Berlin beschreibt Friedrich Koch als knallharten Investor, der nach der Wiedervereinigung hoffte, schnelles Geld zu machen. Doch am Ende konnte er froh sein, dass irgendwer sich um das Haus kümmerte. Koch und seine Freunde zahlten eine Miete, die man symbolisch nennen kann. Sie entkernten die Räume, sorgten dafür, dass mehr Mieter ins Haus kamen.

2023 hat das „Goldhorn“ zehnjähriges Bestehen gefeiert. In den Wohnungen leben mittlerweile 30 Menschen. Die Eisenbahnstraße 97 ist ein Hausprojekt, das auch Menschen wie Nathalie anzieht. Die Studentin ist ebenfalls ins „Goldhorn“ gekommen, aktiv ist sie aber in einem früheren Ladengeschäft nebenan. Im „Con Han Hop“, kurz „Hop“, hingen früher die Mitbewohner einer WG ab. Heute ist es eine Art Wohnzimmer für das gesamte Viertel. Wer sich treffen will, muss kein Geld ausgeben für Bier oder Kaffee. Wer eine Idee hat, kann sie einbringen. Das „Hop“ bietet Sprachkurse an, organisiert Lesungen und Konzerte. In den Schaufenstern gibt es kleine Ausstellungen.

Fast doppelt so viele Einwohner

Anders als das „Goldhorn“, finanziert sich das „Hop“ über Spenden, hat aber zumindest keinen Gewerbemietvertrag, der sich so einfach kündigen lässt. Und doch glaubt Nathalie, dass harte Zeiten bevorstehen. Denn auch das „Hop“ hat kürzlich Post bekommen. In dem Brief wird mit einer Abmahnung gedroht, sollten die Räume nicht wie im Mietvertrag vereinbart als soziokulturelles Zentrum genutzt werden. „Jahrelang hat es keinen interessiert, was hier passiert – aber jetzt erhöht sich der Druck“, sagt die Studentin. Sie spricht über das Haus. Aber ihre Beschreibung passt auch zu dem, was rund um die Eisenbahnstraße 97 passiert.

Der Leipziger Osten wächst rasant: Im Jahr 2000 lebten in Volkmarsdorf und Neustadt-Neuschönefeld 14 000 Menschen. 2023 hat sich deren Zahl fast verdoppelt. Viele Studenten sind in das Viertel gezogen, das Interesse von Immobilienunternehmen ist schon länger geweckt: Grundstücke und Häuser werden für ein Vielfaches verkauft, Wohnungen renoviert. Mit durchschnittlich 9,92 Euro pro Quadratmeter liegen die Mieten noch unter dem, was in anderen Vierteln aufgerufen wird. Doch sie steigen.

Konkurrenz wächst – Preise steigen

Der Stadtforscher Marcus Hübscher hat 2021 eine Studie veröffentlicht, die den Beginn der Gentrifizierung im Leipziger Osten nachzeichnet: Damals befand sich das Viertel noch in einer frühen Phase: Immer mehr Läden, Bars, Geschäfte, kleine Ateliers und Hausprojekte waren entstanden. Es gab kaum Konkurrenz untereinander, Platz war ja genug. Mittlerweile sieht es anders aus: Die aktuellen Entwicklungen bezeichnet Hübscher als „beginnende Konsolidierung“. „Es überleben die, die sich höhere Preise leisten können.“ Selten sind das die, die den Zuzug mit in Gang gebracht haben. Die „Pioniere“, wie sie in der Stadtforschung genannt werden.

Ein solcher Pionier war lange auch das „Erytrosin“ am Torgauer Platz. Im Schaufenster hängt ein Zettel: Eine Einladung, hereinzukommen, mitzumachen. Mittlerweile ist die Tür verschlossen, das Ladengeschäft leer geräumt. Anfang Januar lag ein Efeukranz vor dem „Ery“, Grabkerzen standen daneben. Man könnte es als übertrieben abtun. Aber wer mit den Menschen spricht, die jahrelang hier gewirkt, gebaut, diskutiert haben, der spürt tatsächlich eine tiefe Trauer. Weil nicht nur ein Raum verloren gegangen ist: „Es ist als, sei die Familie weggebrochen“, sagt einer.

In der Eisenbahnstraße 97 soll es gar nicht erst so weit kommen. Deswegen versucht man den potenziellen Eigentümer wieder zu vergraulen, kündigt einen „Mieterkampf“ an, verweist auf die vielen Probleme im Haus, deren Behebung teuer werden dürfte: Das Dach muss repariert werden, diverse Bäder ebenfalls. Manche Bewohner hoffen, dass eine Genossenschaft das Haus übernimmt. Doch was, wenn nicht? Dann hat zumindest das „Goldhorn“ eine Exit-Strategie: Friedrich Koch und seine Freunde haben mittlerweile das Haus gekauft, in dem sie wohnen. Das „Goldhorn“ könnte in eines der Ladengeschäfte einziehen. Es gibt jedoch ein Problem: Dort befindet sich gerade ein Umsonstladen. Der müsste dann raus.


Jens Rometsch 18.09.2023

Vermieter aus Wien kündigt linkem Verein in Eisenbahnstraße: Aktive wollen sich „nicht unterkriegen lassen“

Der soziokulturelle „Verein zur Stärkung einer guten Sache“ soll seine Räume im Leipziger Osten verlassen. Dabei ist das Vereinsprojekt „Erythrosin“ seit mehr als zehn Jahren in der Eisenbahnstraße ansässig, hat die Adresse sogar im Namen verschlüsselt. Die Aktiven wollen sich jetzt „nicht einfach unterkriegen lassen“.

Rauswurf nach langer Mietdauer: Mehr als zehn Jahre ist der „Verein zur Stärkung einer guten Sache“ Leipzig in der Eisenbahnstraße 127 ansässig. Ende 2023 müsse man die Räume im Erdgeschoss nun verlassen, berichtet Sprecherin Carlotta Gessler. „Wir wurden gekündigt – wie viele andere nicht kommerzielle Projekte im Osten Leipzigs. Diese Gentrifizierung stellt ein ernsthaftes Problem dar.“

„Erythrosin“ oder kurz „Ery“ nenne sich der linke Treff, Bildungs- und Veranstaltungsort an der Ecke zum Torgauer Platz, sagt die Psychologie-Studentin. Der Name stehe für einen rosaroten Lebensmittelfarbstoff, der mit E127 abgekürzt wird, also die Adresse in Neustadt-Neuschönefeld wiedergebe. „Die Kündigung des ,Erythrosins‘ bedeutet einen Verlust der Grundlage von 20 ehrenamtlichen Gruppen verschiedener kultureller, sozialer und bildungspolitischer Ausrichtung.“ Etwa 200 Personen seien in den Gruppen aktiv.

Vermieter aus Wien nennt keine Gründe

Vor Ort seien Bundesfreiwilligendienststellen geschaffen worden. Regelmäßig habe man Bildungs-, Lese- und Sportkurse (wie Selbstverteidigung für Frauen), Konzerte, Kinderbetreuungsangebote, auch interkulturelle Begegnungen für den Stadtteil und ganz Leipzig organisiert. Besonders viel Zuspruch erhielt das ausschließlich mit Spenden finanzierte Projekt während der Corona-Pandemie, so die Sprecherin. „Deswegen verwundert uns die plötzliche Kündigung umso mehr.“

Der Vermieter habe keine Gründe für die Kündigung angegeben, was er bei einem Gewerbemietvertrag auch nicht müsse, erklärt Gessler. Es habe weder Mietschulden gegeben noch sonstige Konflikte. Der Verein sei „tief enttäuscht“ über das Vorgehen des Eigentümers, der Firma Merlin Real Estate aus Wien, sowie der in Leipzig zuständigen Hausverwaltung.

„Es hat trotz mehrfacher Bemühungen unsererseits kein Dialog über mögliche Beweggründe oder alternative Lösungen stattfinden können.“ Auf Anfragen der LVZ haben sich der Eigentümer sowie die örtliche Hausverwaltung ebenfalls nicht zur Sache geäußert.

„Japanisches Haus“ findet Unterschlupf

Juristisch lasse sich die Kündigung für die nahezu 100 Quadratmeter umfassenden Vereinsräume wohl nicht abwenden, so die Sprecherin. „In dem Schreiben wurde gleich erwähnt, wenn wir uns irgendwie querstellen, kommen sie mit dem Anwalt.“

Derselbe Vermieter habe 2022 die Koch- und Kulturinitiative „Das Japanische Haus“ aus ihren angestammten Räumen in der Eisenbahnstraße 113b gedrängt – gleichfalls ohne Angabe von Gründen. In der Nachbarschaft dort mussten die Fahrradwerkstatt „Radsfatz“ und die Session-Bar „Trautmann” schließen, zählt Gessler weiter auf.

„Das Japanische Haus“ fand inzwischen Unterschlupf in einem Haus in der Eisenbahnstraße 150, welches zum solidarisch organisierten Mietshäuser-Syndikat gehört, das Profite ablehnt. Trotzdem sei die Verdrängung nicht kommerzieller und sozialer Räume ein immer größeres Problem – auch im Leipziger Osten, sagt die „Ery“-Sprecherin.

„Deswegen wollen wir uns nicht einfach unterkriegen lassen. Wir planen ein Straßenfest, um auf die Gentrifizierung hinzuweisen und dagegen zu protestieren“, kündigt Carlotta Gessler an. Zudem suche der Verein nach bezahlbaren Ausweichräumen, die in dem Viertel aber sicherlich schwer zu finden seien.